Wo die Freiheit wächst | Frank Maria Reifenberg

Edelweiß für die Freiheit, für ein selbstbestimmtes Leben ohne Krieg

Mitten im Zweiten Weltkrieg. Die junge Lene ist 16 Jahre alt, und der Krieg dauert jetzt schon einige Jahre an. Statt sich mit dem Erwachsenwerden zu beschäftigen, hat sie alle Hände voll zu tun die Familie zusammen zu halten. Ihr großer Bruder Franz kämpft an der Ostfront gegen Russen, ihr Vater ist verschollen, ihre Mutter depressiv und ihr kleiner Bruder verehrt den Führer so sehr, dass es mehr kaum geht. Und wo steht Lene selber? Sie weiß, dass es so nicht mehr weitergehen kann. Doch kaum jemand unternimmt etwas. Dann lernt sie Erich kennen und mit ihm eine Gruppe von Jugendlichen, die ihren eigenen Kopf haben: die Edelweißpiraten…

»Ich versuche wacker den Überblick NICHT zu verlieren. Aber manchmal würde ich mich auch gerne wie der Kalli irgendwo in eine Ecke der Welt verfrachten lassen, wo über dir nichts ist außer der Sonne und dem Mond. Auf ein Inselchen mitten im Ozean oder auf einen Berggipfel, am besten den höchsten der Welt, wo du nachts nur in den Sternenhimmel starren kannst. Dahin, wo nichts mehr über dir ist, wo die Freiheit wächst, bis zu den Sternen.«

Briefroman

Ein Briefroman? Zunächst war ich skeptisch, ob ich damit beim Lesen so gut zurecht kommen würde. Skeptisch war zunächst auch der Autor, wie ich später hinten im Buch gelesen habe. Ihm sei auch bewusst gewesen, dass man fast nichts von dem, worum es sich im Buch dreht, in Briefe hätte schreiben können zu dieser Zeit. Das hatte ich nämlich erst vor hier als Kritikpunkt aufzuführen, weil es mir doch ein bisschen sehr leichtsinnig und lebensmüde von den Charakteren erschien. Aber dem wurde durch das Nachwort der Wind aus den Segeln genommen.

»Haben die denn keine anderen Sorgen? Wenn ich mir anhöre, was der Führer da vorige Woche im Reichstag gesagt hat! ›Front und Heimat müssen alles geben‹, sagt er und dass uns ein Kraftakt bevorstünde. Als ob alles, was bisher gewesen ist, ein Spaziergang am Rheinufer war. Darum sollten sie sich kümmern, nicht um unser Geschreibsel.«

Im Endeffekt war ich begeistert von der Briefform. Denn es hilft, sich besser in die damaligen Umstände hineinzuversetzen. Freunde und Familie über ganz Deutschland verstreut, und die einzige Möglichkeit sich nicht zu verlieren, waren Briefe. Auch wenn man teilweise ewig darauf warten musste oder manche gar nicht am Ziel ankamen (es wundert mich ohnehin, dass das im Krieg überhaupt irgendwie funktioniert hat). Obwohl man genug mit sich selber zu schaffen hatte (schauen wo man etwas zu Essen herbekam, die Wohnung bewachen,…), nahm man sich die Zeit zum Briefe schreiben, um nicht ganz verrückt zu werden. Daher finde ich, hat sich das Wagnis Reifenbergs gelohnt, das Ganze in einen Briefroman zu verpacken.

sofort bestellen

ARS EDITION

HARDCOVER
BRIEFROMAN
384 SEITEN
ERSTERSCHEINUNG: 27.06.2019
15,00 €

»Haben sie ihm das in der Kinderlandverschickung beigebracht? Seinen eigenen Onkel in den Kopf schießen? Mein Gott, Willi ist ein harmloser Irrer, der keinem etwas tut. […] Vielleicht hat Kalli einfach Angst, dass in seinen Adern ein bisschen was von Onkel Willis Blut fließt. Könnte doch sein, dass es in der nächsten Generation, bei Kallis eigenen Kindern, wieder durchkommt. Und das, wo der Knallkopf doch so stolz ist auf sein reines, arisches Blut.«

schreibstil

Besonders gut hat mir der Schreibstil gefallen. Ich hatte das Gefühl, diese Personen hätten wirklich 1942 gelebt, den Krieg miterlebt und diese Briefe geschrieben. Das ist nicht der Fall, auch wenn manche Charaktere an wahre Persönlichkeiten angelehnt sind. Ich kann wirklich nur empfehlen, das Nachwort des Autors auch zu lesen, dort erfährt man einige spannende Dinge.

»Werner hat gesagt: ›Wenn das der Führer wüsste!‹ Aber glaubst du denn, dass die hier Tausende Leute umbringen können, ohne dass der Führer das weiß? Das habe ich Werner gefragt und er hat nichts geantwortet.«

Corona und freiheit

Ich habe das Buch gelesen und gedacht: Um Gottes Willen! Was die damals im Krieg alles aushalten mussten. Da konnte keiner einfach auf die Straße gehen und gegen das, was ihm nicht recht gefiel protestieren. Beziehungsweise natürlich konnte man das, aber dann wurde kurzer Prozess gemacht. Natürlich hat jeder von uns in der Schule gelernt wie schlimm die Zeiten waren und was alles dahinter steckte. Aber im Alltag verblasst das immer, finde ich. Und wenn man dann so ein Buch liest, taut alles wieder auf.

Und dann frage ich mich, warum die Leute zur Zeit es nicht einmal aushalten können ein wenig Abstand zu halten. Ich glaube, dass gerade zur Zeit dieses Buch einige Menschen aufrütteln könnte. Dass man sich mal bewusst wird, wie geringfügig manche Probleme im Vergleich zu anderen sind. Wenn Fliegeralarm war, dann sind alle in den Bunker oder in den Keller. Natürlich gab es da auch Murren und bestimmt ist auch mal der ein oder andere durchgedreht und raus gerannt. Aber der hatte dann auch gleich die Quittung dafür. Es war Krieg, und das hatte man klar vor Augen. An Corona ist das Problem, dass man keine Bomben sieht, die fallen. Der Feind ist unsichtbar, aber das macht ihn nicht weniger gegenwärtig. Wir sollten froh sein, dass wir diesen Krieg eigentlich nur mit der Waffe des Social Distancing ausfechten können. Jedenfalls wenn wir alle zusammen helfen.

Kleiner Denkanstoß

Und daher finde ich auch, dass Demonstrationen gegen die Einschränkungen der Grundrechte vermieden werden sollten. Wir haben das Privileg der Freiheit unseres Gedankenguts. Und wenn alle so vernünftig wären zu Hause zu bleiben, weil sie es selbst für richtig halten, dann müsste auch kein Staat von oben eingreifen und die Bevölkerung zur Vernunft erziehen.

»Die Schäden und das Leid sind so unfassbar, aber am Schlimmsten für mich ist das, worüber keiner spricht, was viele nur im hintersten Eckchen ihres Herzens verstecken. Es ist das Gefühl, dass es uns nur recht geschieht. Das hat sich schon so manches Mal bei mir eingeschlichen, als es von Bombennacht zu Bombennacht schlimmer geworden ist. Wenn man mit so einem Leid und Verbrechen gestraft wird, muss man doch etwas angestellt haben.«

Spoiler-Alert

Mein Kopf fand das Ende super geschrieben. Dass man nicht weiß was mit Lene und Erich passiert, fand ich ein gutes Stilmittel, auch wenn ich mich jetzt immer noch ärgere, dass ich es nicht weiß (ich hoffe auf einen zweiten Teil). Damals war es ja nicht so einfach Kontakt zu halten. Und das hat die Unübersichtlichkeit noch einmal gut hervorgehoben. Dass Franz im Krieg  gefallen ist, hat mich ernüchtert, obwohl es mehr als realistisch ist. Mein Herz war einfach nur traurig. Ich hätte mir so sehr ein Happy End gewünscht. Aber gerade das gab es eben meist leider nicht. Und das macht bei allem Schmerz das Buch auch so gut, glaube ich.

noch einige zitate

»Wir haben alle keine rechte Lust mehr. Wer ehrlich ist, gibt es zu: Die ganze Sache geht nicht mehr gut aus. Laut aussprechen tut es kaum einer, man weiß ja nie, wer mithört. Es ist geradezu ein Witz, dass sie die Plakate aufhängen: ›Pst! Der Feind hört mit.‹ Viel schlimmer ist, dass der angebliche Freund mithört. In der Zeitung fordern sie einen sogar dazu auf. Man soll jeden melden, der zersetzende Sprüche macht und nicht mehr an den Endsieg glaubt oder dem Führer oder dem Gauleiter mal ordentlich die Meinung sagen will. Sogar vor deinen eigenen Geschwistern musst du dich in Acht nehmen, unser Kalli ist das beste Beispiel dafür.«

»Doch die Angst um einen selbst und alle, die man liebt hat, das zehrt an einem. Es macht alles so schnell, jede Woche rennt dahin, als wäre es nur ein Tag, ja, ich glaube, wir werden mit jedem Monat, den dieser Wahnsinn anhält, schnell und schneller alt. Ist das nicht ein furchtbares Gefühl? Wir haben unser eigenes Leben noch gar nicht richtig begonnen und schon läuft es einem davon.«

»Verwundete von uns verschleppen sie. Wenn sie das nicht können, verstümmeln sie die Männer, schneiden ihnen Hakenkreuze in die Brust. Ich glaube, die Menschen sind auf allen Seiten verrückt geworden.«

Was denkst du?